Der Colos-Saal und seine Geschichte

Tritt ein, mein Freund. Willkommen in den „Musikwelten des Colos-Saal“.

Du hast es ja vielleicht schon von außen betrachtet, dieses ältere, große Gebäude aus den 30er Jahren des vorigen Jahrhunderts mit der seit 20 Jahren geplatzten und nie ausgetauschten Scheibe, den beiden Schaukästen voller Konzertplakate und dem kleinen Firmenschild – mitten in der Aschaffenburger Fußgängerzone. Und dies soll der Laden mit dem großspurigen Namen „Colos-Saal“ sein? Nun ja, Understatement geht vielleicht anders – zugegeben.

Doch es ist noch früher Abend, nur der enge Eingangsbereich ist zugänglich. Also lass Dir Zeit und wirf erst mal einen Blick auf das Kulturmagazin „Brot & Spiele“, das hier überall ausliegt. Vielleicht erstaunt Dich beim Durchblättern der Seiten die Vielzahl der kulturellen Angebote Aschaffenburgs und Du fragst Dich, wieviele Einwohner diese Stadt denn haben mag. Wie, etwa 70.000 nur? Und für diese Kleinstadt hat es dann Monat für Monat um die 100 Bühnenereignisse. Wie kann das funktionieren?

Schau genau hin, mein Freund! Etwa für ein Viertel dieser vielen Veranstaltungen Aschaffenburgs ist nämlich alleine das Team des Colos-Saal verantwortlich.

Und hier sind die Fakten bezogen auf das Jahr 2022:

Die Firma ist nun 38 Jahre alt und hat mehr als 8000 Veranstaltungen in dieser Zeit durchgeführt – hauptsächlich Konzerte, aber auch Kabarett, Theater, politische Veranstaltungen, Diskussionsrunden, Parties, Hallen-Events, Open Airs und eine eigene Konzertreihe im Aschaffenburger Stadttheater

+ weit über 2 Millionen Besucher kamen seither zusammen, bei zuletzt jährlich bis zu knapp 300 Veranstaltungen, gelegentlich bis zu 7 pro Woche

+ tausende von Musikern aus allen Ecken der Welt gastierten hier

+ zig Genres und Stilrichtungen werden bedient

+ ebenso vielschichtiges Publikum

+ 18 Festangestellte und ein kleiner Kreis von Aushilfen

+ Ausbildungsbetrieb für Veranstaltungskaufleute und Fachkräfte für Veranstaltungstechnik

+ 55.000 Newsletterabonnenten

+ rund 24.000 Facebook-Abonnenten

Auszeichnungen:

+ LEA (Live Entertainment Award) 2013 als „Club des Jahres“

+ APPLAUS (Auszeichnung der Programmplanung unabhängiger Spielstätten) 2015 Kat. I

+ Kulturpreis der Stadt Aschaffenburg 2015 für „Claus Berninger und das Colos-Saal Team“

+ APPLAUS 2018 Kat. I

+ Backstage Club Award 2019

+ APPLAUS 2021 Kat. I

Die 80er und die kulturelle Ödnis

Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts: Kalter Krieg und Nato Doppelbeschluss; Aufrüstung, Deutsche Mark und geschlossene Grenzen; Schmidt, Kohl und Strauß rangeln um die Macht und verkörpern personell die atmosphärische Situation im Land. Es herrschen Bräsigkeit, Konservativismus und Intoleranz. Alte Männer aus der Kriegsgeneration hatten überall das Sagen und bestimmten die Gesellschaft nach ihren Maßstäben und die Kultur nach ihren persönlichen Vorlieben.

So auch in Aschaffenburg. Kultur wurde als Hochkultur definiert und fand hier im Stadttheater statt. Das war es dann auch. Doch gleichzeitig grummelte es im Untergrund. Die nach dem Krieg geborene Generation begehrte teilweise auf gegen die herrschenden Verhältnisse. Erste Pioniere der Umweltbewegung, der neuen sozialen Bewegungen taten sich hervor. Eine Welle von Studentenprotesten überschwemmte wieder einmal das Land, eine neue Linke gründete sich in unzähligen Gruppierungen, die Frauen-Bewegung wurde immer stärker, Homosexuelle protestierten öffentlich und immer lauter gegen Diskriminierung, und ab 1983 strickten die GRÜNEN im Bundestag. Der von den 68ern angekündigte lange Marsch durch die Institutionen begann in Schwung zu kommen, anderthalb Jahrzehnte nachdem er erstmals ausgerufen wurde.

Das atmosphärische Klima begann sich zu ändern in den frühen 80ern. Rock-, Pop- und Jazzmusiker der 60er und 70er Jahre waren mit ihren neuen, freien Lebensstilen, ihren Textinhalten und ihrer musikalischen Kreativität ideell kräftig beteiligt, bzw. zumindest Projektionsfläche junger Menschen für einen alternativen Life-Style. Denn sie schienen mit ihrer bunten Vielfalt eine hoffnungsvolle Alternative für den Ausweg aus der kulturellen Langeweile der frühen Achtziger zu sein.

Klar, Künstler wie Elvis Presley, die Beatles und Stones, sowie die vielen Megagruppen der 70er waren natürlich längst in Deutschland angekommen und wurden gehört, geschätzt, geliebt. Allerdings ausschließlich von der Jugend. Aber die hatte kulturell nichts zu sagen.

Die Ausgangssituation in Aschaffenburg

Ungefähr in diesem Szenario fand 1984 der Startschuss einer Firma statt, die den Colos-Saal heute noch führt. Ende jenes Jahres eröffnete der Klimperkasten und startete ab dem ersten Tag mit kulturellen Monatsprogrammen, Live-Musik, Kleinkunst und Kabarett. Aschaffenburg war damals aus der Sicht eines Musikfans jenseits von Klassik und Folklore eine brutalst langweilige Kleinstadt. Regelmäßige Veranstaltungen gab es nur im Stadttheater und das war der sogenannten e-Musik vorbehalten. Ein paar Wirte und Privatleute organisierten gelegentlich Konzerte mit den wenigen lokalen Bands, die es gab. Okay, im Dunstkreis der amerikanischen Kasernen gab es tatsächlich auch Kneipen, in denen Rockgruppen zu erleben waren. Aber wer traute sich da hin?

In der Region machten allerdings immer öfter ein paar Top-Forty-Bands auf sich aufmerksam, die es schafften, teilweise mit sehr rockigen aber dem Charts-Mainstream folgenden Repertoires bis zu 2000 Leute in die Turnhallen und Gemeindehäuser zu ziehen - stark beäugt und immer wieder vom Establishment der oben bereits erwähnten alten Männer neu reglementiert.

Wer hier in Nordbayern wirklich spannende, neue Musik hören wollte, hatte damals eigentlich nur zweimal im Jahr dazu Gelegenheit. Das damals noch junge Festival „Kommz“ buchte sehr mutig, und bei der Michaelismesse in Miltenberg konnten sich überraschend ein paar Rockfreaks gegenüber der Stadtverwaltung durchsetzen und holten erste, spannende Gruppen auf ihr jährliches Konzert.

Wer jemals Rock oder Jazz in einer nach Schweiß stinkenden Turnhalle mit Neonröhren, in einem Festzelt mit Blumenschmuck und großem Vereinsemblem über der Bühne, oder in viel zu großen und hellen Raum einer nüchternen Mehrzweckhalle erlebt hat, weiß, dass hier nichts zusammen passt – gar nichts. Die jungen Musiker und Musikfreaks der 80er wollten mehr Authentizität und vor allen Dingen andere Musik.

Sie hörten von den ersten Live-Clubs in den Großstädten wie München und Hamburg und fingen an, die gerade erst entstandenen Venues im Rhein-Main-Gebiet zu besuchen: Batschkapp, Sinkkasten und Jazzkeller in Frankfurt, die Goldene Krone in Darmstadt und die Hansabühne in Hanau. Hier fanden sie das, was sie wirklich interessierte: neue, frische, virtuose, spannende Musik jenseits des Musikmarktes, kreative Figuren und unglaublich gute Musiker, die ihr eigenes Ding machten und versuchten, damit zu überleben. Und vor allen Dingen passte hier auch endlich die Atmosphäre für Rock und Jazz. Die Liveclubs und ihre damaligen Macher hatten gute Ton-Anlagen und viel Licht besorgt. Die Emotionen in den kleinen Räumen kochten über, Bands und Publikum zelebrierten ihre Konzerte und verschmolzen zwei, drei Stunden lang zu einer faszinierenden Gemeinde der gemeinsamen Interessen. Das war eine andere Welt!

Veränderung lag also in der Luft und es musste etwas passieren. Eine konservative Gesellschaft hegte und pflegte teilweise mit hohem finanziellen Aufwand aus Steuergeldern die eigenen kulturellen Vorlieben und dominierte somit das Geschehen. Doch unten brodelte es sowohl politisch als auch kulturell überall in Deutschland.

Die Macher

In Aschaffenburg waren es zwei ungleiche Brüder, die es wagten. Bereits Jahre davor diskutierten sie gelegentlich, ob es nicht möglich wäre, eine private Bühne zu betreiben. Und 1984 bot sich endlich die Gelegenheit für den damals 37-Jährigen Günther Berninger und seinen 25-Jährigen Bruder Claus. Günther war Gastronomieprofi und gelernter Küchenmeister, hatte damals gut 20 Jahre in Gaststätten und Hotels gearbeitet, zuletzt in Frankfurt. Dort faszinierten ihn die Rockbands in den Apfelweinkneipen Sachsenhausens und die tolle, ausgelassene Atmosphäre, die in den Läden herrschte. Das war etwas völlig anderes als die steife, traditionelle Gastronomie, in der er sich bislang bewegte. Günther wollte sich unbedingt mit solch einem Konzept zwischen Live-Musik und kultiger Kneipe selbstständig machen und suchte nach einem geeigneten Objekt.

Sein Bruder Claus war seit frühester Jugend Musik-infiziert, schrieb Songs, spielte und sang selbst in diversen lokalen Bands, träumte den Traum, von der Musik leben zu können, war tief verwurzelt in der Musikerszene und gierte seit frühester Jugend wie ein Süchtiger nach neuen musikalischen Entdeckungen. Aber er hatte auch angesichts seines nicht allzu hohen Talents als aktiver Musiker rechtzeitig das Einsehen und schloss ein Studium zum Sozialarbeiter ab, in der Absicht diesen Beruf auch bald auszuüben und sich der Musik in der Freizeit zu widmen. Es kam ein wenig anders.

Der Klimperkasten – hier fing alles an

Zwei Geschäftsleute pachteten eine riesige Kneipe im Aschaffenburger Roßmarkt, den ehemaligen „Heyland’s Treff“, bauten ihn zu zu einer putzig anmutenden Wienerwald-Version einer gutbürgerlichen Gaststätte um und stellten, da sie dort selbst nicht zu arbeiten beabsichtigten, Günther Berninger als Geschäftsführer ein, der mit eigenem Personal den Laden betreiben und den Eigentümern selbstverständlich Rendite bringen sollte. Eine sehr konfliktgeladene Firmenkonstruktion, wie sich bald herausstellen sollte.

Günther wollte ab Eröffnung „Action“ in seiner neuen Kneipe. Live-Musik, Kabarett, Kleinkunst, nur hatte er keine Ahnung, wie er das machen sollte. Aber Bruder Claus war doch aus der Szene, hatte doch gerade sein Studium fertig und könnte doch vielleicht helfen. Also überzeugte Günther seinen Bruder, sich den Laden doch mal anzusehen. Claus fiel aus allen Wolken, als er das innenarchitektonische Desaster sah, welches die beiden Geschäftsleute im künftig „Klimperkasten“ genannten Etablissement angestellt hatten. Nein, das war alles andere als das vorstellbare Ambiente eines Live-Clubs, sondern eher eine gutbürgerliche Katastrophe.

Aber es gab eine kleine Bühne im Klimperkasten. Und was soll man machen, wenn man keinen Pfennig auf der Bank hat und trotzdem seine Chance ergreifen will. Claus blieb trotz aller Vorbehalte, gestaltete und buchte ab dem Eröffnungstag des Klimperkasten im November 1984 ein regelmäßiges Monatsprogramm, und die beiden Brüder starteten unglaublich blauäugig mit ihrem Konzept durch, mussten ganz schnell ganz viel lernen, insbesondere die Regeln des damals noch sehr schlecht organisierten bundesweiten Rock-Geschäfts und seines Wildwuchses, blamierten sich oft genug vor ihren Künstlern und deren Wünschen und zahlten viel Lehrgeld, bis sie sich langsam aber sicher in die Feinheiten des Tourneegewerbes hineindenken konnten.

Heftige Widerstände

Die drei Anfangsjahre waren hart und voller Selbstausbeutung. Claus machte tagsüber einen Fulltime-Job in seinem Anerkennungsjahr als Sozialarbeiter, direkt im Anschluss sogar noch zwei weitere Ausbildungen als Hörfunk- und Zeitungsredakteur und konnte damit finanziell überleben, obwohl er jeden Abend an der Theke half und sich nachts und an den Wochenenden mit Bands und Agenturen beschäftigte, Hotelzimmer bestellte, eigenhändig den ganzen Untermain plakatierte, Pressearbeit betrieb und ein eigenes Programmheft herstellte. Günther hielt damals Tag und Nacht die Stellung, war Wirt, Kellner und Chefkoch in Personalunion, veränderte ständig die Speisekarte, verbrüderte sich des Nachts mit allen Künstlern und Gästen, stritt sich mit den Eigentümern herum, die mehr Kasse machen wollten und lebte vorerst überwiegend von seinen Ersparnissen und Träumen.

Denn es lief nicht so richtig an. Woher sollte denn auch das Publikum eines Live-Clubs stammen, es gab ja kaum Live-Konzerte im näheren Umkreis. Auch für die meisten Musikfans war das Live-Erlebnis eines Musikclubs noch etwas Neues, auf das man sich erst einmal einlassen musste. Und die alten Männer kommen wieder ins Spiel, die damaligen Entscheidungsträger, Lokalpolitiker, Meinungsführer. Der Klimperkasten und sein frühes Publikum war ihnen höchst suspekt, die beiden Macher sicherlich Spinner, die Künstler garantiert alle auf Drogen, das Publikum soundso, die Musik war schrecklich und natürlich viel zu laut. Eine Totgeburt also in deren Augen, eine Disco, ein Jugendtreff, eine Hasch-Höhle, eine linke Gefahrenquelle, am Ende womöglich auch noch „grün“ angehaucht.

Die Berninger Brothers bekamen es in schneller Folge mit Polizei und Ordnungsamt, mit Bauamt, Straßenverkehrsamt, Umweltamt, Gartenbauamt, Tief- und Hochbauamt zu tun. Gerichtsprozesse mit Nachbarn kamen hinzu, Auseinandersetzungen mit dem kompletten Stadtrat und einzelnen Politikern. Mediale Unterstützung blieb aus. Die lokale Presse (damals das altehrwürdige Main-Echo noch mit örtlichem Meinungsmonopol) beachtete das Programm kaum, die überregionalen Medien soundso nicht. Stadtmagazine für die jüngere Generation gab es noch keine – was hätten sie auch aus langweiligen Städten zu berichten gehabt?

Die privaten Sender waren gerade erst im Entstehen, das öffentlich rechtliche Fernsehangebot aus lediglich ARD und ZDF ignorierte Aschaffenburg selbstverständlich und nachvollziehbar. Ein paar einzelne Redakteure in den Rundfunksendern fanden zwar spannend, was im Klimperkasten passierte, konnten aber nicht wirklich helfen, denn die HR-Leute sollten sich auf Hessen konzentrieren und den BR-Redakteuren war Aschaffenburg immer zu weit weg. Die GEMA war damals schon gierig und verlangte Unsummen. Dass man als Veranstalter an eine Künstlersozialkasse  zahlen muss, hatte sich noch nicht bis zu den Brüdern herumgesprochen – die entsprechende Nachzahlung war heftig und gefährdete fast die ganze Idee. Überall blies der Wind ins Gesicht und die Zukunft war höchst ungewiss.

Langer Atem zählt

Aber es gab auch ganz andere Erfahrungen: Die Konzerte kamen immer besser an. Nicht nur Musiker und deren Dunstkreis besuchten den Klimperkasten. Immer mehr eingeschworene Musikfans aller Altersklassen, Bildungs- und Einkommensschichten ließen sich verzaubern und begeistern. Viele Freundschaften mit Künstlern und Bands entstanden, immer neue, interessante Menschen tauchten nach und nach auf. Beeindruckende Konzerte, virtuose Musiker, Künstler und Sounds aus aller Welt machten den Laden mehr und mehr zum Geheimtipp und ermutigten die Betreiber, durchzuhalten – irgendwie.

Günther und Claus hatten Glück. Die Eigentümer hatten sich den Klimperkasten ganz anders vorgestellt, hatten sich vor allen Dingen eine höhere Rendite versprochen und wollten den Laden loswerden – allerdings gegen eine sehr hohe monatliche Pacht. Ende 1986 übernahmen die Berninger-Brüder den Klimperkasten und konnten sich dort komplett verwirklichen, ohne weitere Einflussnahme von Leuten, die keine kulturellen Interessen hatten. Und nun sollte es laufen: Die nächsten sechs Jahre waren eine Erfolgsgeschichte und der kleine Klimperkasten und seine Macher weiteten das Programm qualitativ, quantitativ und stilistisch immer weiter aus. Das Publikum wuchs und viele aufgeschlossen denkende Menschen rund um Aschaffenburg verabschiedeten sich mehr und mehr von den Vorurteilen, Fehleinschätzungen und blöden Ressentiments, die es wie oben geschildert in den ersten Jahren gab.

Starke Veränderungen

In der Zwischenzeit war viel passiert. Stadtmagazine und Szene-Zeitungen waren mittlerweile auf dem Markt und rangen nach Zielgruppen. Auch in Aschaffenburg. Private Fernseh- und Radiosender erweiterten das bisher gehörte und gesehene Spektrum der deutschen Bevölkerung. Immer mehr Rock- und Popmusik überschwemmte die Szene und die ersten Personalcomputer tauchten auf. Das Ost-West Machtgeschacher endete vorerst mit dem Fall der Berliner Mauer und die Menschen atmeten und lebten auf. Neue Sounds, neue Künstler kamen aus dem Osten Deutschlands und Europas. Auch immer mehr Publikum kam aus dem Osten, mit einem Mordshunger auf die Musik, an die es bislang ganz schwer dran kam. Viele neue Besucher des Klimperkastens etwa fuhren für Konzertabende aus den ehemaligen Thüringer Zonenrandgebieten nach Aschaffenburg. Der Klimperkasten bekam nach und nach auch überregional einen Namen und konnte immer mehr Publikum ziehen.

Anfang der 90er quollen viele Konzerte über, etliche Bands hatten sich im Klimperkasten ihr Publikum aufgebaut, die Acts waren gefragt und mittlerweile größeren Kreisen bekannt. Immer mehr echte Musikkenner kamen mittlerweile sogar von weit her, um die sehr emotionsgeladene und dichte Konzertatmosphäre zu erleben. Dies trotz der miserablen Sichtbedingungen, der mittelmäßigen Tonanlage und des spärlichen Konzertlichts im Laden. Es wurde langsam Zeit, sich zu vergrößern und das Ganze auf eine andere Qualitäts-Ebene zu bringen. Und ja, es kam auch langsam ein wenig Geld in die Taschen der Betreiber und in die Firma, die damit ständig in bessere Veranstaltungstechnik investierten konnte.

Der Colos-Saal kommt ins Spiel

Direkt im Nachbargebäude hatten Günther und Claus den Raum ihrer Träume ausgemacht. Mittlerweile professionalisiert und langsam und sicher mit allen Wassern der Branche gewaschen ahnten sie, dass der sogenannte Nebenraum einer Gaststätte, die damals Gambrinus hieß, genau die richtige Dimension haben könnte, in der sich ein privates Musiktheater entwickeln könnte.

Doch vorerst wehrte sich die Eigentümerin, die Heyland's Brauerei also, dagegen, den „traditionellen Charakter einer Brauerei-Gaststätte“ aufzugeben. Und ein zweites optisches Wienerwald-Desaster wollten die Brüder nicht noch einmal. 1992 gab die Brauerei ihren Widerstand auf. Überall in Aschaffenburg waren es die für ein jüngeres Publikum konzipierten Kneipen, Restaurants und Cafes, die gut liefen. Die älteren Wirte konnten dem Trend nichts entgegen halten und Brauereien mussten umdenken. Die Berningers unterschrieben den Pachtvertrag für das Gambrinus-Gebäude und gestalteten alles um. Die Bank spielte mit, eine Riesensumme wurde für Umbau, Gastronomieeinrichtung, eine tolle PA und sehr viel Bühnenlicht aufgenommen. Eine aus damaliger Sicht sehr riskante Investition, denn nur mit einer eindeutigen Vermehrung des Publikums bestand die Chance, die Schulden abzubauen. Und keiner wusste 1992, ob dies im neuen Laden gelingen würde.

Aus einem wurden zwei Betriebe. Die kleine Gaststätte wurde zum „Gambrinus Novus“, später zur „Jazzküche“ und heute ist es das „Sidekick“ - der sogenannte Nebenraum wurde ab Ende 1992 zum Colos-Saal. Acht Jahre harte Arbeit und ausgesuchtes Programm im Klimperkasten hatten die Basis geschaffen für eine treue Fangemeinde, die vom ersten Tag an den Wechsel in den Colos-Saal mit machte und von Jahr zu Jahr immer größer wurde. Nun bereits 30 Jahre lang (oder 38 Jahre, wenn man die Anfangszeit im Klimperkasten mitzählen will). Claus, der Programmmacher, konnte sich hier endlich so verwirklichen, wie er es in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht hatte. Und der Spieß drehte sich bald herum: nicht mehr er musste Bands und Agenturen von Aschaffenburg als Auftrittsort überzeugen, sondern Künstler aus aller Welt meldeten sich in immer größeren Zahlen und wollten unbedingt auf die Bühne. Und der Colos-Saal als auch sein Publikum wurden in Sachen Programm immer mutiger.

Die Firma wächst

Aus der Brüder-Partnerschaft war inzwischen ein kleines Unternehmen geworden. Katharina Franz, die Star-Bedienung des Klimperkastens und Lebensgefährtin von Günther, hielt den Brüdern im Klimperkasten als Geschäftsführerin den Rücken frei, bis sie sich im Jahr 2000 selbstständig machte. Immerhin waren es nun 1992 und in den Folgejahren mit Klimperkasten, Gambrinus Novus und Colos-Saal gleich drei gastronomische bzw. kulturelle Betriebe, die funktionieren mussten. Einige Jahre noch lief der Klimperkasten als Zweit-Laden in dieser Personal- und Betreiberkonstellation weiter, allerdings zuletzt als Musikkneipe ohne Live-Programm.

Rolf Münnich, Freund aus der Studenten-WG von Claus und ebenfalls Diplom-Sozialarbeiter, wurde wegen seiner sonstigen Qualitäten als Allrounder, Lichttechniker, Hausmeister, Gruppentherapeut und Handwerker überredet, zog nebst Gattin nach Aschaffenburg und ist bereits seit der Umbauphase Spezialist für alle baulichen und haustechnischen Innereien des Colos-Saal und als zugezogenes Aschaffenburger Original mittlerweile stadtbekannt. Er ist nun seit stolzen 30 Jahren in der Firma.

Theken-Derwisch Ismail laKhouane und Gastro-Logistiker sowie Thekenchef Matthias Fuchsbauer kamen ins Team und schaffen es seit fast drei Jahrzehnten auf wundersame Weise, Wochenendandrang in Festzeltstärke zu organisieren und auch noch durchzustehen.

Pamela Dehniger arbeitete als Schülerin bereits als Servicekraft im Klimperkasten. Sie wusste also ziemlich genau Bescheid darüber, was sie erwartet, als sie das Stellenangebot aus dem Colos-Saal angenommen hat. In der Pre-Production trifft Pamela die letzten Absprachen mit den Bands bzgl. Anreise und Zeitplan, sie führt leitend Konzerte durch, ist Büromitarbeiterin, Chefin des Dienstplanes und in selbstständiger Nebentätigkeit schwer gefragte Produktionsleiterin für Stadtverwaltung und Kulturamt Aschaffenburg bei deren Events.

Als Schlagzeuger der Foolhouse Bluesband war Hermann Rack langjähriger Freund des Hauses. Eigentlich für Licht und Ton eingestellt, entpuppte sich der gelernte Schreinermeister darüber hinaus als Multitalent in Sachen Handwerk, Planung, Organisation und Durchführung von Renovierungsmaßnahmen sowie als Ausbilder für VeranstaltungstechnikerInnen. Seine Arbeit als Tontechniker und Mann am FOH erfährt in Kollegen- und Künstlerkreisen international großen Respekt.

Programmlich eine entscheidende Weichenstellung war die Verpflichtung von Matthias Garbe, einem ausgewiesenen Kenner der Rock- und Popmusik, der neben Claus zunächst zum zweiten und sehr erfolgreichen Booker für den Colos-Saal wurde. Mittlerweile ist er der Hauptverantwortliche des Liveprogramms und holt den größten Teil der Bands in den Colos-Saal - immer auf der Suche nach neuen Acts und nach wie vor mit feiner Spürnase für das Besondere.

Florian Esken hat seine berufliche Karriere mit einer Ausbildung zum Veranstaltungskaufmann im Colos-Saal begonnen und ist nun der Mann für administrative Arbeitsbereiche rund um die abendliche Durchführung unserer Konzerte und Parties und wegen seines einnehmenden Kommunikationstalents sehr oft „an der Front“ als Produktionsleiter im Saal und an der Kasse zu erleben. Kreativ und technisch engagiert sich Flo in der Gestaltung unserer Colos-Saal Werbung (Plakate, Logos etc.) und bei der Streaming-Produktion.

Mit einigen Aushilfseinsätzen rund um Konzerte und Parties hat sich David Brey ins Geschehen gebracht. Da blitzten Fähigkeiten und Eigenschaften auf, die im Colos-Saal sehr gefragt sind. Dave wechselte den Beruf und im Colos-Saal ist er nun u.a. als Booker, als Chef-Streamingtechniker, Lichttechniker, Video-Artist und hauptsächlich als Mann für fast alle Fälle gefragt und tätig. Immer wieder spornt er die Geschäftsleitung zu irgendwelchen gemeinnützigen pro bono Aktionen rund um den Colos-Saal an.

Eigentlich zunächst nur für Gastronomie und das Catering der KünstlerInnen zuständig war Adrian Diez. Mittlerweile betreut Adi auch gelegentlich die Abendkasse und ist der Dritte im Bunde bei unseren Streamingproduktionen, außerdem Team-Leiter unserer Aushilfen und MitarbeiterInnen an der Theke.

Die Hausmeisterei ist der Herrschaftsbereich von Frank Müller. Zudem gibt er sich, als ältester im Team, große Mühe, erzieherisch auf seine Kolleginnen und Kollegen einzuwirken.

Solomon Derebe wirkt entweder hinter der Theke oder dann, wenn niemand im Saal ist. Dann sorgt er dafür, dass alles wieder reinlich ist für die nächste Show.

Ein Teil der MitarbeiterInnen gehört der Generation Baby Boomer an und wird die Firma peu à peu in den kommenden Jahren verlassen - in die wohlverdiente Rente, by the way. Andere werden ihr Bestes geben, den Colos-Saal auch in Zukunft als musikalische und kulturelle Drehscheibe weiterzuführen. Zwei aus diesem Zukunftsteam sollen noch erwähnt werden, denn die sind echte „Eigengewächse“:

Die brillante Lichtchoreographie bei zahlreichen Shows stammt von Aljoscha Weigel-Rack. Es sieht ganz danach aus, als würde Aljoscha in die Fußstapfen seines Vaters und einstigen Ausbilders Hermann treten und diesen in wenigen Jahren als Chef der kompletten Veranstaltungstechnik ablösen.

Und dann ist da noch Maximilian Berninger, Sohn von Claus und Jutta, der sich nach Studium und Berufstätigkeit in einem anderen Bereich der Veranstaltungsbranche entschlossen hat, den Colos-Saal in die Zukunft zu führen und beim Vater gerade eine Ausbildung zum Master of Desaster bzw. zum Chef vom ganzen Lampenladen macht. Gerade in den schwierigen Pandemiejahren 2020 bis 2022 war seine Arbeit und Rolle als stellvertretender Geschäftsführer enorm wichtig für den Fortbestand der Firma.

Ab September 2022 werden zwei weitere junge Mitarbeiter für Tontechnik und Booking das Team anwachsen lassen. Zudem wird zeitgleich ein junger Mann seine Ausbildung zum Veranstaltungstechniker im Colos-Saal beginnen - das Kernteam besteht ab dann aus 18 Festangestellten. Neuer Rekord rechtzeitig zum 38. Jubiläum der Firma im November 2022. Die Namen nennen wir erst ab September.

Initiator Günther Berninger verließ im Jahr 2000 die Firma wegen gesundheitlicher Probleme und um es insgesamt etwas ruhiger angehen zu lassen, was ihm als Arbeitstier nicht so ganz gelang. Ende 2007 starb er im Alter von nur 59 Jahren.

Dass seine vagen Ideen des Jahres 1984 so lange Bestand haben werden, dass sämtliche Konflikte mit Behörden und Nachbarn längst der Vergangenheit angehören, der kulturelle Stellenwert des Clubs in Aschaffenburg keiner Diskussion mehr bedarf, der Colos-Saal mittlerweile einer der ältesten Live-Clubs Deutschland ist und großes Renommee genießt, hat er 1984 nicht für möglich gehalten.

Wer heute 30 Jahre alt oder jünger und rund um Aschaffenburg aufgewachsen ist, kann von der ganzen Entwicklung nicht viel wissen. Für Menschen dieser Altersgruppe existiert der Colos-Saal nun schon so lange sie sich erinnern können als eine von mehreren Aschaffenburger Kultureinrichtungen. Und für viele Musikbegeisterten ist er wohl die wichtigste.